Hallo Claus,
Der Begriff „Erfahrung“ scheint im Alltagsbewusstsein sehr eindeutig im
Sinne von Erfahrung haben/nicht haben, E. sammeln etc. verankert zu
sein. Aber schon ein Blick in die philosophische Literatur,
gleichermaßen wie anderer Wissenschaftszweige zeigt, wie vielfältig und
teils divergent dieser Begriff ausgelegt ist.
Bezüglich Deiner Frage kann man sich also auf Kant beschränken, was aber
angesichts seiner enorm ausufernden (wenngleich in strenger Systematik
angelegten) Behandlung dieser Thematik nicht leicht fällt und (für mein
Dafürhalten) auch nicht als einzig gültige Definition gelten muss.
Zumal, vermutlich seiner extrem komplexen Argumentation geschuldet,
durchaus Spuren von Inkonsequenz in seinen Ausführungen auszumachen
sind, wie auch Goethe zu diesem Thema an ihm Kritik übte:
„/Als ich die Kantische Lehre, wo nicht zu durchdringen, doch möglichst
zu nutzen suchte, wollte mir manchmal dünken, der köstliche Mann
verfahre schalkhaft ironisch, in dem er bald das Erkenntnisvermögen aufs
engste einzuschränken bemüht schien, bald über die Grenzen, die er
selbst gezogen hatte, mit einem Seitenwink hinausdeutete.“ (Goethe)/
So sieht Kant eine Möglichkeit darin, sich per spekulativer Vernunft
über die Erfahrungsgrenze (wir würden es heute wohl Erfahrungshorizont
nennen) hinaus zu wagen, also gewissermaßen durch Eingrenzung unseres
Vernunftgebrauchs die Grenzen der Sinnlichkeit zu erweitern. Ganz gemäß
der Annahme des Aristoteles (nihil est in intellectu, nisi quod antea
fuerit in sensu).
Nichts von eingegrenztem Vernunftgebrauch findet sich dann aber in
Kant‘s Herangehensweise in seiner Frage nach Grundlage und Bedingung von
Erfahrungen, wenn er postuliert, dass alle Erkenntnis mit der Erfahrung
beginnt; Das Erkennen selbst aber Formen enthält, die erst die Erfahrung
konstituieren:
„Erfahrung ist ohne Zweifel das erste Produkt, welches unser Verstand
hervorbringt, indem er den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen bearbeitet..“
Das „Synthetische der Erkenntnis“ ist das Wesentliche der Erfahrung.
Gemäß dieser Maxime baut sich das Schema seiner Erkenntnistheorie auf,
wonach (grob skizziert) zunächst über unsere Wahrnehmung der Sinne
(sinnliche Anschauung, transzendentale Ästhetik) gewonnene - Eindrücke
zu qualifizieren und einzuordnen sind; denn solchermaßen erworbene
Erkenntnis bliebe „blinde Anschauung“ ohne Urteilsbildung und
Begriffszuordnung sowie entsprechende Schlussfolgerung. Erstere
erfordern analytisches Vermögen (Kant‘s transzendentale Analytik,
„Vermögen der Erkenntnis überhaupt“), gemeinhin Verstand als explizite
Gehirnfunktion.
Schlussfolgerungen ziehen (sowie Trugschlüsse vermeiden) erfordert
logisches Vermögen (Kant‘s transzendentale Dialektik: kategorische,
hypothetische oder disjunktive Vernunftschlüsse), gemeinhin Vernunft.
Im Zusammenspiel von Verstand und Vernunft entwickelt sich die „höchste
Einheit des Denkens“ als Quelle unserer Erkenntnis. Um diese zu
gewähren, müssen sich alle Erfahrungsobjekte nach den Gesetzen des
Verstandes richten. Erfahrung ist Erkenntnis des Empirischen.
Soweit habe ich das erst einmal (vornehmlich zu meiner Orientierung) zu
Kant‘s Begrifflichkeit von Erfahrung und Erkenntnis „zusammengetragen“.
Wir können jetzt versuchen, Deine Frage in einen Bezug zu diesen
Kant‘schen Schemata zu bringen:
a) „ /Wenn Kant nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung fragt
- ist dann mit "Erfahrung" alles gemeint, was einem irgendwie zustößt
und gleich wieder vergessen wird?/
Alles, was einem zustößt, nehmen wir demnach zunächst über unsere Sinne
auf (Anschauung), ordnen Begriffe zu (soweit im Gedächtnis vorhanden)
und nehmen eine Beurteilung vor (entspr. Verstand und hinreichende
Urteilskraft vorausgesetzt). Sind nun Begriff und Urteil verfügbar, ist
es an der Vernunft, entsprechende Schlüsse zu ziehen. Am Ende dieses
Wahrnehmungs- und Denkprozesses sollte aus der Erkenntnis des
Zugestoßenen Erfahrung resultieren. Ob diese Erfahrung sogleich wieder
vergessen wird bzw. zu vergessen ist, wird eher als Frage an
(Tiefen)Psychologen und ggf. an Neurophysiologen und Hirnforscher zu
richten sein. Ein traumatisches Erlebnis als Zugestoßenes wird
(erfahrungsgemäß!) nicht ohne weiteres vergessbar sein. Hingegen ein
häufig wiederholtes und demnach bereits im „Erfahrungsschatz“
verankertes Zugestoßenes, wird tatsächlich schnell (zu) vergessen sein.
Eine (weitere) Erfahrung ist es sicher allemal (und wird in diesem Fall
„zu den Akten“ gelegt, mit welchem neuronalen Aufwand an
Gedächtnisleistung immer).
b)///Oder wird es eine Erfahrung erst dadurch, dass man sich dabei sagt
- oder entsprechend handelt: aha, so ist das also, das merke ich mir für
die Zukunft. In diesem Sinn spricht man ja auch von Erfahrungen haben
mit.../erfahren sein./
/Falls es im zweiten Sinn gemeint sein sollte, wäre die oberste
Bedingung nicht das Gedächtnis?/
Der Ablauf des Wahrnehmungs- und Denkprozesses ist wie unter a)
beschrieben identisch. Entspricht aber - wie der Frage zugefügt - das
Zugestoßene definitiv einer außergewöhnlichen Wahrnehmung (z.B.
schmerzauslösend – /und somit ein "aha, so ist das also" /evoziert),
wird deren Beurteilung und die dementsprechende (Ent)Schlussfassung so
ausfallen, dass man dieses Ereignis nicht „vergessen“ wird und als
Erfahrung eine herausragende „Platzierung“ im Gedächtnis einnehmen wird.
Somit würde ich meinen, dass geradewegs Fall b) eine dediziert
ausgeprägte Gedächtnisleistung bewirkt/erfordert.
Sollte ich Deine Frage (hoffentlich) richtig verstanden haben, wäre das
meine Antwort darauf. So sehr sicher bin ich mir allerdings nicht. Dann
wird sich ja eine Richtigstellung hier (ein)finden.
Bester Gruß!
Karl
Am 31.10.2017 um 14:51 schrieb Claus Zimmermann via Philweb:
[Philweb] Wenn Kant nach den Bedingungen der
Möglichkeit von Erfahrung
fragt - ist dann mit "Erfahrung" alles gemeint, was einem irgendwie
zustößt und gleich wieder vergessen wird? Oder wird es eine Erfahrung
erst dadurch, dass man sich dabei sagt - oder entsprechend handelt:
aha, so ist das also, das merke ich mir für die Zukunft. In diesem
Sinn spricht man ja auch von Erfahrungen haben mit.../erfahren sein.
Falls es im zweiten Sinn gemeint sein sollte, wäre die oberste
Bedingung nicht das Gedächtnis? Claus
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