Hallo,
zum Jahresausklang erlaube ich mir, einmal einige Gedanken mit der
Liste zu teilen, die mir in den vergangenen Wochen so kamen.
Jede Schlussfolgerung erfolgt auf Basis von Prämissen. Manche
Schlussfolgerungen auf Basis von Enthymem präsentiert, das heißt,
gewisse "triviale" Prämissen werden als stillschweigende
Voraussetzungen nicht explizit genannt. Bei einer nachträgliche
Rekonstruktion kann es zu Mehrdeutigkeiten kommen, wenn mehrere
implizite Prämissen zur Komplettierung der Schlussfolgerung in Frage
kommen.
Ein großer Konsens besteht darin, "gesichertes Wissen" als eine Form
der Schlussfolgerung anzugeben. Häufig geschieht diese
Schlussfolgerung dabei freilich implizit.
Demzufolge müssen auch die empirischen Wissenschaften sich solcher
Schlussfolgerungen bedienen (denn sie zielen ja auf "gesichertes
Wissen" ab), wobei gewisse Prämissen stillschweigend vorausgesetzt
werden.
Um diese Voraussetzungen möglichst non-willkürlich zu gestalten, gilt
es, so in höchsten Grade voraussetzungsfrei zu sein.
Man wird also bei der Rekonstruktion der Voraussetzungen der
empirischen Wissenschaften so vorgehen, dass man möglichst wenig
gehaltvolle Prämissen macht und nur das absolut notwendige
voraussetzt.
Man könnte auch sagen, man setzt die notwendigen Bedingungen oder auch
"Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis" auf einem Gebiet voraus.
Werden diese zurückgewiesen, so der Hintergedanke, dann ist kein
gesichertes Wissen auf dem jeweiligen Gebiet der Erkenntnis mehr
möglich.
Man könnte diese Bedingungen der Möglichkeit auch als "erste
Prinzipien" des Gebietes bezeichnen oder als "Axiome".
Die Naturwissenschaften haben einige Voraussetzungen, die bereits seit
Jahrhunderten eingehend diskutiert werden. Es scheint zum Beispiel
eine Art "Pauschalisierungsaxiom" zu geben, das postuliert, dass wir
unsere Empirie, sei sie durch Experiment oder durch passive
Beobachtung gewonnen, verallgemeinern dürfen.
Andernfalls wäre das Aufstellen von allgemeingültigen Naturgesetze auf
Basis von singulären Beobachtungen nicht möglich.
Weitere Axiome scheinen die Forderung nach möglicher Einfachheit oder
die ceteris-paribus-Klausel zu sein.
Würde man diese Axiome in Zweifel ziehen, könnte man z. B. einfach
annehmen, unsere bisherigen Erkenntnisse in Sachen chemischer Bindung
gelten nur, weil wir als Beobachter uns grade durch einen bestimmten
Bereich des Universums bewegen, in dem ein besonderes Kraftfeld wirkt,
welches diese Regeln erzwingt. Ohne die Wirkung dieses Kraftfeldes
würden chemische Prozesse völlig anders ablaufen.
Für gewöhnlich gehen wir davon aus, dass die Ursache A zur Wirkung B
führt. Die hier als Beispiel vorgetragene Behauptung aber lautet, dass
zusätzlich zur Ursache A noch eine unbekannte Bedingung X erfüllt sein
muss, damit es zu B kommt. Wir konnten den Effekt des Ausbleibens von
X bisher nur nicht beobachten, weil X einfach zufällig bei jeder
unserer Experimente und Observationen erfüllt war!
Es kann rein logisch nicht ausgeschlossen werden, dass unser gesamter
"Ereignishorizont", also der Bereich von dessen Wirkung wir noch
betroffen sind, sich innerhalb der Gültigkeit eines solchen Kraftfeld
X befindet. In der Tat scheinen manche Modelle der kosmischen
Inflation (false vacuum) oder Theorien über andere Universen mit
anderen Naturgesetzen genau das zu implizieren.
Die historischen Wissenschaften, gleichgültig ob Altphilologie,
Philosophie- oder politische Geschichte, setzen in der Tat so eine
Pauschalisierung nicht voraus.
Ihnen geht es nicht um das Aufstellen universeller Naturgesetze,
sondern um die Rekonstruktion der singulären Vergangenheit.
Die historische Wissenschaft als rationale Unternehmung versucht ein
möglichst wahrscheinliches Bild der Vergangenheit auf Basis von
hinterlassenen Evidenzen zu zeichnen. Dabei wird natürlich
stillschweigend vorausgesetzt, dass das wahrscheinlichste Bild auch
wirklich der Wahrheit am Näherten kommt.
Dies wird übrigens nicht nur in den Wissenschaften vorausgesetzt,
sondern etwa auch in einer Detektivgeschichte. Hier versucht der
Protagonist ein Verbrechen durch Rekonstruktion des Tathergangs auf
Basis von übriggebliebenen Spuren aufzuklären. Verletzt man das Axiom
von oben, so wäre es denkbar, dass nur zufällig Fingerabdrücke des
Verdächtigen an der Tatwaffe waren, nur zufällig der Verdächtige ein
Motiv hatte etc.
Es könnte dann einen großen Unbekannten geben, der die Situation nur
ausgenutzt hat, um die Ermittlungsbehörden zu täuschen.
Das ist im Einzelfall zwar extrem unwahrscheinlich, jedoch belehrt uns
die Erfahrung, dass sehr unwahrscheinliche aber mögliche Ereignisse ab
und an stattfinden. Es gewinnt immer mal wieder jemand im Lotto.
Manche Wissenschaften, wie die Politologie, setzen zudem noch voraus,
in ihren Feld Erkenntnisse auf Basis öffentlich verfügbarer Fakten
gewinnen zu können. Das also, im Umkehrschluss, keine entscheidenden
Informationen existieren, die aber geheim sind.
Wird diese Annahme in Frage gestellt, gelangen wir häufig in das Feld
der Verschwörungstheorie als Erklärung für politische und soziale
Ereignisse.
Wir gelangen auf Basis unserer bisherigen Überlegungen zu einem
Paradox. Nehmen wir als Beispiel etwa die Personen, die die Flachheit
der Erde annehmen. Sie scheinen die Axiome der Naturwissenschaften an
sich nicht zu leugnen und nehmen weiterhin an, dass ihre Beobachtungen
sie zur Schlussfolgerung allgemeingültiger Naturgesetze berechtigen.
Vielmehr scheinen sie den Konsens der Experten auf geheime Absprachen,
Machtmechanismen und dergleichen zurückzuführen.
Wir beobachten dieses Schema erstaunlich häufig im Bereich des sog.
Crackpottums.
Was denkt ihr darüber?