Geschichte darf man niemals aus heutiger Sicht betrachten, sondern immer nur aus der Sicht
der damaligen Gegebenheiten.
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Am 04.05.2019 um 23:48 schrieb Claus Zimmermann via
Philweb <philweb(a)lists.philo.at>at>:
[Philweb]
Nur ganz kurz: Ich finde, man kann ersten Demokraten nicht vorwerfen, daß sie nicht im
Rahmen bestehender demokratischer Institutionen und Verfahren gehandelt haben. Es gab für
sie ja noch keine. Man muss sie danach beurteilen, ob sie in einem demokratischen Geist
gehandelt haben. Das ist doch der der Selbstbestimmung. Natürlich schaffen sie damit
Startbedingungen für die, die nach ihnen kommen. Aber wenn sie ihnen kein Zwangssystem,
sondern ein offenes System hinterlassen, könnten die doch eigentlich "danke"
sagen.Ich weiß nicht, ob das mit den ersten Demokraten auf die Gründerväter zutrifft, da
fehlen mir die Detailkenntnisse. Sie wurden ja offenbar schon gewählt. In einer
repräsentativen Demokratie sollten die Abgeordneten den Wählern zwar vorher sagen, was sie
vorhaben, müssen aber nach der Wahl nicht den Wählerwillen exekutieren, auf die Gefahr
hin, dann nicht wiedergewählt zu werden.Aus unserer Sicht mögen frühere Wahlen schwere
Mängel gehabt haben. Dann ist für mich eine entscheidende Frage, ob es die Möglichkeit gab
(wenn auch vielleicht nicht für jeden), etwas an diesem Zustand zu verändern und etwa
Selbstbestimmung für alle zu fordern, ohne daß einem dann die Obrigkeit an den Kragen
geht. Das Paradies auf Erden wird es vermutlich nicht geben. Umso wichtiger ist die
Möglichkeit der Selbstkorrektur.Es geht natürlich nicht, daß ein Gesetz schon deshalb in
Kraft tritt, weil es in diesem Gesetz steht. Darüber entscheidet der Gesetzgeber. Ich
nehme an, das waren die Gründerväter als gewählte Abgeordnete und ihre Nachfolger hatten
das gleiche Recht.Grüße, Claus
-------- Ursprüngliche Nachricht --------Von: Rat Frag via Philweb
<philweb(a)lists.philo.at> Datum: 04.05.19 08:50 (GMT+01:00) An: philweb
<Philweb(a)lists.philo.at> Betreff: [Philweb] Die Luecke am Anfang jeder Demokratie
[Philweb]Sehr geehrte Leserinnen und Leser der Phil-Liste,Liebe Mitschreiber beiderlei
Geschlechts,ich habe mir in den letzten Tagen einige Gedanken gemacht und versuchediese,
mal wieder, hier zu verbreiten, um damit eine Kritik zuermöglichen. Auch möchte ich damit
mein Gehirn zwingen, eine möglichstlogische Ordnung zu finden.Folgender Ausgangspunkt der
ÜberlegungDie Gründerväter der Vereinigten Staaten haben bekanntlich eineKonferenz
abgehalten. Am Ende dieser Konferenz stand eine neue,ausgearbeitete Verfassung, die im
Wesentlichen bis heute ihreGültigkeit hat.Das Problem ist jetzt, dass erstens die Leute,
die die Gründerväterauf den Weg geschickt haben, gar nicht beabsichtigten eine
neueVerfassung auszuarbeiten. Sie waren unter Umständen mit der
altenKonförderationsverfassung vollständig zufrieden. Zweitens enthält der7 Artikel der
Verfassung eine Regel, die festlegt, wann die neueVerfassung in Kraft tritt.Grade das hat
meinen Geist gefesselt, denn hier regelt ein Gesetz dieKriterien seines Inkrafttretens
selbst.Versetzten wir uns einmal ein die Lage so eines Abgeordneten,gleichgültig ob
amerikanisch oder französisch: Wir wurden durch dasVolk (oder durch weitere Parlamente)
gewählt, um gewisse spezifischeFragen zu beantworten. In Frankreich ging es um Steuern, in
den USAsoweit ich weiß um Zollfragen. Das Volk hat uns in diesem Falleletztlich gewählt,
um vor dem König (oder unter den einzelnen Staaten)seine Interessen betreffend dieser
einen Frage zu vertreten. Niemand,der uns gewählt hat, hätte zu diesem Zeitpunkt ahnen
können, dass wiruns zusammensetzen, um eine neue Verfassung zu entwerfen.Folglich, streng
genommen, sind wir zu dieser Handlung selbsteigentlich nicht demokratische legitimiert.
Natürlich könnte man dasProblem lösen, indem man eine Volksabstimmung fordert mit der
Frage"Soll der Konvent eine neue Verfassung ausarbeiten? Ja oder Nein?"Es stellt
sich hierbei nur die Frage: Impliziert eine solcheVolksabstimmung nicht breits eine Form
der Demokratie? Schließlichwurden dabei eine Reihe von heiklen Entscheidungen
schonvorweggenommen. Wer darf abstimmen, wer gehört in dem Sinne zum Demos?Dürfen
Strafgefangene abstimmen? Leute, die wegen Schulden inBeugehaft sich befinden? Frauen oder
Sklaven? Für die Abgeordneten desBallhauses in Frankreich und den US-Gründervätern scheint
es offenbarkein Problem gewesen zu sein, Sklaven und Frauen von der Wahlkategorisch
auszuschließen. Dabei mussten auch diese Gruppen unter denEntscheidungen leiden.Auch der
Modus, in dem ein solcher Konvent gewählt wird, hatAuswirkungen. Ein Majorzwahlrecht mit
Ein-Mandats-Wahlkreisen führt zueiner anderen Zusammensetzung des Konvents als eine
Listenwahl odereine Wahl nach Präferenz, wie wir es zum Teil bei Wikipedia
bestaunendürfen. Man könnte theoretisch auch fragen, wieso es keine Quoten fürbestimmte
Gruppen geben sollte, seien es geographische oder sonstigeoder warum nicht einige
Abgeordnete auch ausgelost werden sollten.Auch stellt sich hier eine nicht von vornherein
illegitime Frage:"Wieso dürfen die Wähler zum Zeitpunkt X einen
neuenVerfassungskonvent wählen, spätere Wähler aber nur eine Legislativeoder ein Parlament
und dergleichen? Warum darf diese VersammlungGesetze mit Verfassungsrang verabschieden,
spätere müssen sich aber andie Regeln dieser Versammlung halten?"Es erscheint in der
Tat willkürlich, wieso z. B. im Falle der USA dieGründerväter eine Verfassung
verabschieden konnten, spätereGenerationen aber nur noch im Rahmen dieser Verfassung
politischagieren sollten. Selbst eine Art permanente Verfassungsentwicklung,wie es
teilweise im Vereinigten Königreich der Fall ist, ist keineAntwort auf die Frage. Denn
dort gibt es einen de facto Ist-Zustand,der auf vorangegangenen Konventionen basiert. Es
gibt hier zwar keinenprivilegierten Zeitpunkt X, aber dennoch eine Reihe
vonEntscheidungen, die von ganz anderen Leuten im anderen Zusammenhanggetroffen wurden.Das
Problem scheint mir mit einem Satz zu lauten: Man kann dieAusgangsbedingungen einer
Demokratie nicht seinerseits demokratischlegitimieren. Am Anfang jeder Demokratie muss
eine Art diktatorischeroder revolutionärer Akt stehen, in welchen ein Verfassungsgeber,
"Ratder Weisen" oder ein hobbesianischer Friedensverhandlung sich
selbstlegitimiert.Die Juristen (Staatsrecht) haben sich ebenfalls mit diesem
Problembefasst und sind zum Konzept der "Volkssouveränität" gelangt. Nachdiesem
Konzept ist das Volk "souverän" also auch über dem Gesetzstehend.Mit dieser
souveränen Kraft kann das Volk dann auch jederzeit eineVerfassung absetzen oder eine neue
bestimmen. Das Konzept mag ausjuristischer Sicht passend sein (die Juristen haben damit
wohlBauchschmerzen, sagt das Internet), aber das philosophischer Sichtbleiben fragen
offen:- Wieso liegt die Souveränität grade beim Volk? Könnte man sich nichtvorstellen,
diese Souveränität etwa beim Parlament liegt (wie inEngland vielleicht) oder irgendwer
sonst? Wieso sollte überhauptjemand über den Gesetz stehen können?- Wieso sollte es so
etwas wie einen Souverän überhaupt geben?- Auch ist die Lehre lückenhaft. Was ist mit der
Wahl, wie setzt sichder Konvent zusammen und wann entscheidet er, Konvent zu sein? Es
gibtkeine schlüssige Antwort, die sich aus dem Konzept der Souveränitätdes Volkes
ergibt.Was denkt ihr soweit? Ist meine Schlussfolgerung (Demokratie beginntquasi als
Revolution) korrekt? Oder habe ich etwas übersehen, was michwiderlegt?Gruß in die
Runde,Ratfragender._______________________________________________Philweb mailing
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